VERMISST! oder die Liebe zu den Dingen
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Erstellt am Donnerstag, 29. April 2010 18:44
(JS) Ich habe unzählige Tücher und Schals in meinem Schrank. Doch seit Jahren trage ich am liebsten das eine: aus lilafarbenem weichen Stoff, bedruckt mit bunten Blüten und unaufdringlichen Fransen. Trug, denn ich habe es verloren.
Es ist Freitag. Seit zwei Tagen quält mich schreckliches Zahnweh, das ich nur mit Schmerzmitteln ertragen kann. Heute wage ich mich zum Zahnarzt. Keine Ahnung, warum ich mich in der Straßenbahn entgegen der Fahrtrichtung setze, vielleicht will ich nicht abgelenkt sein von meiner Lektüre. Es ist warm und so schäle ich mich aus meiner Jacke, nehme mein Lieblingstuch (!) ab und lege es neben mich auf den Sitz. Ins Lesen vertieft – Julia Franck erzählt mir von einem Hotel, in dem skurrile Menschen verkehren - merke ich nicht, wie die Zeit vergeht. Plötzlich höre ich das »Mockau, Post« der Ansagerin. Hier muss ich raus! Ich stürze auf, schnappe meine Sachen, steige aus. Und es ist, als erinnere mich das leise Schließen der Waggontür daran, dass ich etwas vergessen habe. Mein Tuch fährt gerade weiter, ohne mich! Verzweifelt schüttele ich die Jacke, als hoffe ich, unbewusst das Tuch in den Ärmel der Jacke gestopft statt zu haben. Panik ergreift mich, als habe ich meinen Personalausweis in den reißenden Strom fallen lassen. Dann werde ich traurig und vergesse, dass der Zahn in meinem Kopf hämmert.
Einigen Leuten berichte ich davon. Sie raten mir, im Fundbüro nachzufragen. Ich weiß jedoch: »Das Tuch ist zu schön, um es nicht zu behalten.«
Und dann schelte ich mich: Ausgerechnet ich, die Kämpferin gegen das Anhimmeln von materiellen Werten, hänge an einem Tuch! Und noch schlimmer: Ich liebe auch einige Möbelstücke, alle Bücher und meine CDs, meine Kaffeemaschine. Meinen Radiowecker nenne ich »Gregor«. Hallo?!
Doch als die Wirkung der Narkose nachlässt und ich erleichtert bin, dass der Zahn nun nicht länger nach quälender Aufmerksamkeit sucht, gelange ich zu der Überzeugung, dass mein Verhalten normal ist. Denn sobald ich dem gegenständlichen Ding eine immaterielle Bedeutung (Anhänglichkeit) überstülpe; wenn ich glaube, genau dieses eine Ding zu brauchen, kein anderes zu wollen, bedeutet das doch irgendwie so etwas wie ein klein bisschen Glück. Ein lilafarbenes Glück.
Ich war in dem Laden, in dem ich das Tuch vor Jahren gekauft hatte. Natürlich sah ich kein zweites und ein anderes wollte ich nicht.
PS: Inzwischen habe ich beim Fundbüro angerufen und meine Erwartung wurde bestätigt. Ich bin noch immer traurig und wünsche mir, dass mein Lieblingstuch von jemandem gefunden wurde, der es ähnlich lieben kann wie ich. Das würde mich trösten. Wie auch die Erkenntnis, dass es schön ist, wenn man keine größeren Probleme hat als die Sehnsucht nach einem verlorenen Tuch.